Wie ich 1945 das Kriegsende erlebte

Mai 1945. Meine Mutter und eine Nachbarin liegen sich in den Armen: „Es ist Frieden!“ Wir sind aus Liegnitz/Schlesien ins Riesengebirge zu unserer Großmutter vor den Russen geflüchtet. Mutter hatte sich geweigert, mit ihren Söhnen (13, 12, 11, 8) in einen Zug nach Dresden einzusteigen: „Nicht im Krieg in eine Großstadt!“

Kilometerweit stapfen wir mit un­seren Schlitten durch den Schnee. Im Mai 1945 kapituliert Deutschland, doch für uns ist der Krieg noch lange nicht zu Ende.

21 Leute in einer Wohnung

In Großmutter Hirts Wohnung in Petersdorf ist noch im Februar 1945 der Flur belegt. Jeden Morgen bitten wir in der Kirche für unseren Vater und all die Soldaten an der Front. Wir glauben fest, daß der Herrgott sie und uns beschützen kann. Längst sind die Schulen mit Verwundeten überfüllt. Auch die älteren Männer müssen jetzt zum „Volkssturm“. Frauen und wir Kinder müssen Panzergräben ausheben.

Russen marschieren ein

Plötzlich aber ist das Leben im Dorf wie ausgestorben, denn russische Soldaten marschieren ein. Um abzulenken, damit die Russen nicht unsere Mütter vergewaltigen, stellen wir Jungen uns an den Gartenzaun und bieten dem Soldatentrupp Wasser an. Zuerst müssen wir immer selbst einen Schluck nehmen. Ein Soldat probiert meine Brille an, die ihm zum Glück nicht paßt. Abends kommt ein russischer Offizier mit seinem Burschen ins Haus. Beide benehmen sich ehrenvoll, verlangen aber Abendessen und wollen Fotos von meinem Vater sehen, der Offizier ist. Beide schlafen auf dem Boden. Das Pferd, das den Wagen meiner aus Breslau ge­flüchteten Oma Jerusalem ge­zo­gen hat, wird uns weggenommen. So fangen wir Jungen ein herrenloses Panjepferd ein, umwickeln den Hals und zwei Beine, und es bleibt bei uns. Mit diesem Pferd kann Großmutter Jerusalem später wieder nach Breslau zurückfahren, in die Hauptstadt Schlesiens, die 1930 bei einer Volkszählung noch zu 97 Prozent deutsche und nur 3 Prozent polnische Einwohner hatte.

Die wirre Nachkriegszeit

Nach den Russen kommen die Polen. Deutsche müssen weiße Armbinden tragen. Als Strafe für den Besuch einer deutschen Geheimschule werde ich einen Tag lang von der polnischen Polizei festgehalten. Mit einem Balken verbarrikadieren wir abends die Haustür. Einmal werde ich von polnischen Soldaten in das etwa zehn Kilometer entfernte Agnetendorf verschleppt, in die Heimat des Dichters Gerhart Hauptmann (†1946). Als ich nachts entwischen kann und heimkomme, beten Mutter und Großmutter immer noch. In einem Bach finde ich bald darauf ein paar hundert Reichsmark. Unsere schlimmsten Finanznöte sind behoben. Sechzehnmal laufen mein Bruder Klaus und ich 16 Kilometer weit nach Birngrütz, wo gute Bauern Kartoffeln und Milch verkaufen.

Dann 1946 die Ausweisung aus unserem lieben Schlesien. Plötzlich müssen wir innerhalb von ein paar Stunden aus Petersdorf fort, für immer. Irgendwohin, Richtung Westen. Als wir Petersdorf verlassen, läuten gerade die Glocken zur heiligen Messe. Je 35 Personen kommen in einen Güterwaggon. Am Ortseingang von Petersdorf fliegen Blumen zu uns herein. Ein Abschiedsgruß unserer Jugendfreunde. Jemand stimmt das Riesengebirgslied an, und von Waggon zu Waggon pflanzt sich „du meine liebe Heimat“ fort. Inmitten dieser Vertreibung und Flucht aber ist unser Herz ruhig. Wir ruhen ja alle in Gottes Hand. Ein Geheimnis.
Pfr. Winfried Pietrek

Buch: Memoiren (10 €)

Diese Artikel könnten Ihnen ebenfalls gefallen