Im Deutschen Bundestag läßt die Regierung Brandt (SPD und FDP) 1974 über ihre Vorschläge zur Abtreibung abstimmen: Zur Debatte steht die „Fristenlösung“.
Zwölf Wochen lang soll eine Schwangere ihr ungeborenes Kind im Mutterleib töten dürfen. Eine Perversion unserer christlichen Schöpfungs-Ordnung. Die Mehrheit scheint Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) im Bundestag sicher.
Hungerstreik für die Ungeborenen
Wir, 50 Christen aller Altersstufen aus ganz Deutschland, wollen das nicht kampflos hinnehmen. Fünf Tage lang sitzen wir fastend, betend, singend, diskutierend auf dem Bottlerplatz mitten in Bonn, hoffend gegen alle Hoffnung, daß das neue Gesetz nicht zustandekommt. Über unseren Köpfen unser Transparent: „Hungerstreik für das ungeborene Leben.“ Am ersten Tag macht sich das Hungern besonders bemerkbar, jedenfalls bei mir. Auf unserem Verteil-Flugblatt steht: „Wir nehmen bewußt Spott und Unverständnis auf uns!“ Und weiter: „Für uns ist nicht der Staat, sondern GOTT der HERR über Leben und Tod. Ein Volk ohne jeden Heroismus ist schon vom Heroin seines Untergangs vergiftet.“ Mehrere aus unserer Gruppe senden eine persönliche Fassung dieses Flugblatts ihrer Lokalzeitung. Wegen häufigen Nieselregens ziehen wir uns in der Nacht zum Eingang eines Kaufhauses zurück.
Bonn auf den Beinen
Ein Bonner taucht mit einer Kanne voll heißem Tee auf. Vom Hauptwachtmeister bis zum Schlossermeister, von der Doktorandin bis zur Floristin sind viele Berufe in unserer Gruppe vertreten. Aber auch unvorstellbarer Haß brandet uns und der Kirche entgegen. „Abtreibung“ sei das „Recht der Frau“, keift eine Vorübergehende. Oder: „Es hat nur ein wenig gezwackt, als sie mir das Kind wegmachten!“, berichtet eine Mutter. Wir protestieren. Ehrfurcht gebührt allem Leben, da es von GOTT kommt.
Ein Händedruck aus Norwegen
Nicht nur Deutsche sprechen uns an. Ein Inder, ein Hindu, erklärt: „Achtung vor dem Leben ist auch das höchste Gebot meiner Religion.“ Oft beginnen wir, Glaubenslieder zu singen. Unter uns ist ein Zisterziensermönch aus der Eifel. Es herrscht eine zuversichtliche Stimmung, weil alle wissen, wofür wir hier stehen. Auf einmal haben wir sogar 700 Unterschriften gegen die von der Bundesregierung geplante „Fristen-Lösung“ auf unseren Zetteln. Ein Mann kommt auf mich zu: „Ein Händedruck aus Norwegen.“ Der WDR taucht auf und eine US-Wochenzeitung, 300.000 Auflage. Letzter Tag. Selbst das schwedische Fernsehen rückt an. Ein Mädchen stellt fest: „Später soll mir keiner sagen, ich hätte in dieser geschichtlichen Stunde unseres Volks tatenlos zugesehen.“
Abstimmung im Bundestag
Über Transistor-Radio hören wir die Abstimmung im Bundestag: „Die Gesetze, die Abtreibung bis zur 12. Schwangerschafts-Woche erlauben sollen, kommen nicht zustande.“ Denn der Abgeordnete Hähser, neu ernannter Staatssekretär im Finanzministerium, hat über seinen Amtsgeschäften die Abstimmung vergessen. Der Abgeordnete Günter Wichert hat in einer schalldichten Telefonzelle das Klingelzeichen nicht gehört. Jubel bricht aus in unserer Gruppe! „Vor GOTT gibt es keinen Zufall“, kommentiert ein junger Mann das überraschende Fehlen von zwei Stimmen für das Regierungslager. Wir singen „Großer GOTT, wir loben dich!“ Dann ziehen wir in den Kaufhof, um zu essen.
Der Rücktritt Willy Brandts
So bin ich sicher, unser kleiner Hungerstreik hat mitgeholfen, daß die „Fristen-Lösung“ bei ihrer ersten Abstimmung im Bundestag durchfiel. Verheerend jedoch, daß sie bei der Folge-Abstimmung am 16. April 1974 dann doch Gesetz wird – mit knapper Mehrheit (247 JA-Stimmen, 233 NEIN-Stimmen, 9 Enthaltungen) – gegen CDU/CSU. Aber kurz danach stürzt auch Willy Brandt als Bundeskanzler: Am 6. Mai 1974 tritt er wegen der Guillaume-Spionage-Affäre zurück. Unser Kampf für das Recht auf Leben aber beginnt jetzt erst recht.
Pfr. Winfried Pietrek
Buch: Im Netz der Pflegemaffia (15 €)