Jedes Volk besitzt eine Art Urwort, das den Kern seiner Identität ausmacht, allen seinen Tätigkeiten zu Grund liegt und sein Schicksal bestimmt. Dieses Schlüsselwort kann verdrängt und von Sekundärworten überlagert, niemals aber völlig vernichtet werden.
Oswald Spengler kennt so etwas: „Eine Idee ruht in der Tiefe jeder Kultur, die sich in bedeutungsschweren Urworten ankündet.“ Dostojewski sagt: „Wir Russen sind von Haus aus Nihilisten.“ Die Engländer gelten als Utilitaristen (utilis=nützlich). Thomas Hobbes, der bedeutendste englische Philosoph, erklärt: „Denken ist Rechnen.“ Die Franzosen sind pathetische Intellektuelle, ohne große Gesten geht bei ihnen nichts. Die Polen sind leidenschaftliche Patrioten.
Treue ist kein leerer Wahn
Das deutsche Urwort, die Treue, nimmt unter allen Urworten einen hervorragenden Platz ein. Die gesamte deutsche Geschichte ist eine Veranschaulichung des bekannten Schiller-Wortes: „Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn.“ Die Treue ist „die schönste und menschlichste Eigenschaft“, weiß auch Goethe.
Treue eint die Germanen
Obwohl die Germanen in zahlreiche Stämme zerfielen, ist die Treue ihr höchster gemeinsamer Wert. Jedenfalls ist der römische Historiker Tacitus voll des Lobes für die germanische Treue. Vor allem als Gefolgschaftstreue spielte sie eine große Rolle. In den Aphorismenbüchern der französischen Moralisten kommt sie z.B. kein einziges Mal vor. Die Römer kannten zwar den schönen Ausdruck „Unerschütterliche Treue – fides immota“, aber die Treue war nicht ihr Thema. Sie waren vielmehr daran interessiert, Ruhm zu erwerben, wo auch immer.