Der erste Adventskranz

In Hamburgs Johanneum, der berühmten Lateinschule, unterrichtet Johann Hinrich Wichern (1808-1881) Schüler auch im Griechischen, der Sprache der Evangelien, und im Klavierspielen. Sein Vater, Notar und Übersetzer aus 10 Sprachen, beginnt als Küfer und Mietkutscher. Doch als Johann Hinrich 15 ist, bisher schulschwach, begreift er seine Verantwortung für sechs jüngere Geschwister.

Die Mutter kämpft als Wäscherin ums Überleben der Familie. Als Hinrich 18 ist, gibt er wöchentlich 50 Stunden in einem Internat und hört 7 Kollegs an der Universität. Dennoch nimmt er sich Zeit für sein Tagebuch und betet für Anvertraute. Auch eigener Fehler – Stolz, Wehleidigkeit, Jähzorn – klagt er sich an. Er will „Menschenfischer“ werden.

Als Wichern 20 ist, beginnt er in Göttingen protestantische Theologie zu studieren, wechselt aber nach Berlin. 24 Jahre alt, 1832, wird er Jugend-Pastor im zentralen Hamburger Stadtteil St. Georg.

Kinder als Zuhälter

Dort findet er in Kellerwohnungen und Bodenkammern zerlumpte, bettelnde Jungen, die sich als Zuhälter versuchen. Ein Jahr später eröffnet er nahe bei Hamburg das „Rauhe Haus“. Die Jungen schnitzen Holzpantinen, arbeiten in Garten und Küche, flicken ihre Kleidung, backen Brot, füttern das Vieh und betreuen ihre Bienen. Eine Buchdruckerei entsteht. Johann Hinrich Wichern darf der Erfinder von Kinderdörfern genannt werden. Jede Familiengruppe hat bis zu 12 Kinder. Die Jungen können Schuster oder Tischler werden, Schneider oder Drechsler, Spinner, Glaser oder Maler oder auch Drucker oder Bauern. Sobald Wichern heiratet, werden auch Mädchen aufgenommen. Morgens und abends hält der Geistliche eine kurze Andacht.

Der erste Adventskranz

1839 läßt Wichern, inzwischen 31 Jahre alt, in seiner Reetdach-Kate ein altes Kutschenrad aufhängen und daran 19 rote und 4 weiße Kerzen festmachen, letztere für die Adventssonntage, dazu frische Tannenzweige. Das ist der erste Adventskranz, der später in den Gemeinden aller Konfessionen üblich wird. 1845 werden 35 junge Männer als „Brüder“ ausgebildet. 25 sind bereits ausgesandt für die „Innere Mission“, die Pastor Wichern begründet hat.

Heidnische Christen

Öffentlich findet der inzwischen bekannte Jugend-Seelsorger scharfe Worte: Es gibt „inmitten der getauften Christenheit eine Gesinnung und Lebensgestaltung, die nicht christlich, sondern heidnisch ist.“ Die Kirche solle mitten in der Welt stehen und sich nicht auf das „rein Religiöse“ beschränken. Seit 1854 gibt Wichern, inzwischen 46, monatlich „Fliegende Blätter“ heraus. Als man ihm vorwirft, Umgang mit dem „Auswurf der Menschheit“ stumpfe ab, erwidert er nur, das sehe man ja an ihm selbst. Entschlossen setzt er den Anfang einer Gefängnis-Reform durch, als er einen Raum entdeckt, in dem 100 Männer, Frauen und Kinder zusammengesperrt sind. Doch eine große Reform bleibt ihm versagt. Liberale und Linke im Parlament wollen nicht, daß „Betbrüder“ Einfluß erlangen.

Ökumenisches Hilfswerk

Wo Wichern in anderen Konfessionen den „Geist des Evangeliums“ erkennt, scheut er nicht, sich daran zu freuen. So urteilt er: „Es ist ein entsetzlicher Verlust, daß die Reformation die Orden (und Barmherzigen Schwestern) über Bord geworfen.“ Als eine Typhus-Epidemie in Oberschlesien 9.000 Kinder ihrer Eltern beraubt, organisiert Wichern gemeinsam mit Katholiken ein Hilfswerk. Er entwirft Pläne für Waisenhäuser und Brüder-Ausbildung, denen Breslaus Fürstbischof Melchior von Diepenbrock zustimmt: Dieser entsendet 7 Lehrer, die im „Rauhen Haus“ lernen, wie sie Waisen besser helfen können. Als Ursache des Kommunismus nennt Wichern Frivolität der Sitten, Habsucht, Förderung des Unglaubens, Verwüstung des Volkes. Denn auch Kinder müssen täglich 14 Stunden für einen Hungerlohn arbeiten. Die Macht des Stimmzettels erkennt Wichern jedoch nicht.
Pfr. Winfried Pietrek

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