Der Krankenbruder im weißen Habit steht innen am Fenster seiner winzigen Hilfsbaracke. Vor ihr im Freien hat sich eine lange Schlange von Notleidenden angesammelt. Mit jedem Einzelnen spricht der Sechzigjährige in Malayalam, der Sprache des südindischen Bundesstaates Kerala. Manchmal blättert Bruder Fortunatus in seinem Notizbüchlein, ob er den „Kunden“ schon kennt.
Früher hat der Berliner in Breslau und später in Frankfurt/Main Kranke gepflegt. Dann ist er dem Ruf des Generals der Barmherzigen Brüder gefolgt, hat sogar die indische Staatsangehörigkeit angenommen. Jetzt greift er bald in das winzige Regal hinter sich nach einem Päckchen Reis, dann sucht er ein passendes Kleidungsstück oder holt kleine Rupie-Scheine aus seinem Brustbeutel, damit einer sich Salz oder etwas Zucker kaufen kann. Dann wieder kommt er, eine Medizin-Tasche in der Hand, aus seinem Gehäuse nach draußen, um einen Verletzten zu verbinden. Die Schlange will und will nicht enden. Es fällt Fortunatus nicht leicht, Geduld zu wahren. Darin sind Inder uns Deutschen unendlich überlegen.
Nachmittags nimmt der Ordensmann mich mit zu seinen Obdachlosen im Bergland dieses Idukki-Distriktes, außerhalb des Städtchens Kattappana. Ein junger indischer Krankenbruder fährt uns ein Stück im Jeep. Dann stapfen wir lange durch schmale Urwaldwege. Schließlich gelangen wir zu einer zusammengebrochenen Hütte. Notdürftig ist sie wiederaufgerichtet und mit einigen Plastik-Planen behängt. Die Bewohner sehen elend aus, sind aber selig, als sie Fortunatus erblicken. Ein paar Lebensmittel hat er als Geschenk mitgebracht. Neben der Hütte schwelen Holzstücke zwischen den Kochsteinen, auf denen ein Topf mit Wasser steht. Hunderten schon hat der Bruder während seines Lebens zu einem regen- und winddichten 28qm-Häuschen verholfen, wann immer 2.500 € aus Deutschland zusammenkommen. Lebenslang haben die Zwei-Euro-Taglöhner für ihr kleines Berggrundstück mit Garten an den Staat abzuzahlen. Und beim Material-Transport und Hausbau tatkräftig mitzuhelfen.
Auf dem Rückweg treffen wir einen Lepra-Kranken. Seine angegriffenen Füße sind ohne Verband, ohne Schutz mitten im Staub der Landstraße. Gottlob hat Fortunatus alles Notwendige in seinem kleinen Rucksack. Der Fachmann reinigt die Füße, desinfiziert und verbindet sie. Ich bin glücklich, daß meine alten Sandalen genau über die Verbände passen und sie schützen. Freudestrahlend zieht der Mann weiter. Mit meinen hochgekrempelten Hosenbeinen falle ich auf und kaufe mir im Städtchen für zwei Euro ein paar Latschen. Ihre Halterung führt jedoch zwischen den Zehen hindurch, was ein paar Tage lang Schwierigkeiten macht.
Fortunatus, aufgewachsen im Glatzer Bergland, ist ein schlichter, tiefgläubiger Beter. Er wird 87 Jahre alt. In Kattappana ist er unvergessen. Als er alt und schwach wird, holt ihn seine Gemeinschaft zurück nach Frankfurt. Er ist gehorsam, aber nicht glücklich. Er bittet den Ordensgeneral, daß er „nach Hause“ darf, nach Kattappana. Nach einem Jahr läßt man ihn zurück zu seinen Armen nach Indien. Ein paar Jahre lang lebt er in einem von ihm gegründeten „Haus für arme Männer“ wie einer von ihnen, tröstend und betend. Nicht einmal mehr eine Zelle mit Vorhang hat er für sich.
Jetzt ist sein Grab nicht weit weg vom Männerhaus, wo oft ein Dankbarer eine Kerze im Sand anzündet. Auch der zuständige Bischof Arackal von Kanjirappally und Ordensgeneral Jesus Etayo kommen zum Grab. Das Volk drängt: „Bruder Fortunatus ist sicher ein Heiliger. Wenn nicht er, wer dann?“ 2020 darf er offiziell „Diener Gottes“ genannt werden. Die von ihm begründete indische Ordensprovinz zählt inzwischen 50 Krankenbrüder und 25 Kandidaten. Da kein Frauen-Orden für diese Arbeit zu begeistern war, hat Fortunatus die Johannes-von-Gott-Schwestern begründet, inzwischen weit über 100 Ordensfrauen, dazu Postulantinnen und Novizinnen. Mutig haben sie auch im nordindischen Orissa, einer Verfolgungs-Region, eine Niederlassung unter den Adivasi begonnen, unter der indischen Urbevölkerung.
Pfr. W. Pietrek