Du warst noch jung, gerade mal achtzehn, als ich in dein Leben trat. Oma sagte, mach das Abitur, ein zweites Kind kannst du immer noch bekommen. Opa sagte, das ist noch kein richtiger Mensch, nur ein bißchen Gewebe. Doch mein Herz schlug schon, ich hörte Stimmen und Musik und hatte wunderbare Träume.
Sie machten einen Termin ab, damit du den Schein abholen könntest. Du wolltest nicht gehen, und dann bist du doch gegangen.
Wie Feuer hat der Schein in deiner Hand gebrannt, und du hast ihn zwischen die Wäsche geschoben. Die Frau in der Klinik sagte, ich sei ja noch so klein und würde gar nichts merken, und es ginge ganz schnell. Doch sie hat gelogen, weil sie wollte, daß du es tätest. Sie hielt die Kinder für Feinde und haßte sie. Und dann kam der Schlauch und hat mich zerrissen.
O Mama, es tat so weh, es tat so weh! Und ich habe geschrieen und geschrieen. Doch du hast es nicht gehört. Zuletzt kam eine Zange und hat mir den Kopf zerdrückt. Und ich wollte doch so gerne leben, in deinen Armen liegen und deine süße Stimme hören. Nun trauerst du mir nach, weinst Tag und Nacht, und keiner kann dich trösten. Ein weiteres Kind kannst du nicht bekommen, hat der Arzt gesagt. Ich war dein einziges. Heimlich schaust du den Frauen nach, die einen Kinderwagen schieben oder ein Kind an der Hand führen und wärst so gerne eine von ihnen. Du hättest dein Abitur nachholen können, das wäre nicht so schlimm gewesen. Doch dann hast du das Schlimmste getan, das ein Mensch tun kann. Alle haben dich belogen, die dir angeblich helfen wollten. Hättest du dich doch durchgesetzt! Du warst doch sonst so stark.
Du kannst kein Kind sehen, ohne an mich zu denken, wie ich wohl aussähe, welche Farbe meine Haare und Augen hätten, und ob ich ein Junge oder ein Mädchen wäre. Du wirst es nie wissen, denn du hast mich schon im zarten Alter getötet. O Mama, was hast du getan! Was hast du getan!
Werner J. Mertensacker